Der DGM-Preis richtet sich an exzellente Wissenschaftler*innen, die entweder beeindruckende Durchbrüche in ihrem Fachgebiet erzielt oder neue Forschungsfelder erschlossen haben. In diesem Jahr zeichnet die DGM Prof. Dr.-Ing. Thomas Niendorf, Professor für Werkstofftechnik an der Universität Kassel, für seine beispiellosen Beiträge in der additiven Fertigung mit dem DGM-Preis 2024 aus.
1) Ihre Forschung im Bereich der additiven Fertigung hat weltweit Anerkennung gefunden. Was hat Ihr Interesse an diesem spezifischen Forschungsthema geweckt und welche wesentlichen Herausforderungen haben Sie dabei gemeistert?
Die additive Fertigung hat mich von Anfang an begeistert: die Möglichkeit äußerst filigrane, und dabei gleichzeitig sehr komplexe Strukturen zu schaffen ist einfach einzigartig. Direkt die ersten Proben, die ich im Jahr 2010 in den Händen halten konnte, waren sogenannte Gitterstrukturen. In einem gemeinsamen Projekt unter Beteiligung des Direct Manufacturing Research Center (DMRC) der Universität Paderborn haben wir uns die Frage gestellt, wie solche Strukturen überhaupt sinnvoll mechanisch getestet werden können. Gleichzeitig stellte sich die Frage, wie die Mikrostruktur derartig gefertigter Metalle aussieht und wie dies wiederum mit dem Versagensverhalten zusammenhängt. Schnell erkannte ich, dass es auf diese Fragen keine einfachen Antworten gibt, und zu dem Zeitpunkt in der Literatur auch keine zufriedenstellenden Antworten. Somit war die Tür weit geöffnet die zahlreichen wissenschaftlichen Forschungslücken unter Verwendung und Weiterentwicklung fortgeschrittener Charakterisierungsmethoden anzugehen. Schnell erkannte ich dabei, dass die additive Fertigung mehr ist als ein Werkzeug, um geometrisch komplexe Strukturen zu realisieren. Vielmehr lassen sich gänzlich neue Werkstoffe realisieren, die nur unter Verwendung additiver Fertigungsprozesse überhaupt geschaffen werden können. Hieraus wiederum ergab sich die Idee zu einem neuartigen Forschungsgroßgerät, welches uns erlaubt den Änderungen im Werkstoff live während des Herstellungsprozesses zuzusehen. Die nun an der Universität installierte Anlage ist weltweit einzigartig und ich freue mich, dass bereits zahlreiche Anfragen zur Zusammenarbeit aus national und international führenden Arbeitsgruppen eingegangen sind.
2) Ihre Arbeiten zu Formgedächtnislegierungen, Materialermüdung, Mikrostrukturanalyse sowie Randschicht- und Eigenspannungsanalyse haben großes Potenzial für industrielle Anwendungen. Welche langfristigen Ziele verfolgen Sie in diesen Forschungsbereichen und welche Auswirkungen erwarten Sie von Ihren Ergebnissen?
Die Bewertung der Sicherheit und Zuverlässigkeit von Werkstoffen war immer ein zentraler Bestandteil meiner Forschung. Die aktuellen Änderungen in unserer Welt zeigen uns täglich, welch hohe Bedeutung diesen Aspekten zukommt. Nachhaltige Lösungen für unsere aktuellen Herausforderungen im Ingenieurwesen, ob im Maschinenbau, dem Bauwesen oder der Elektrotechnik, erfordern den Einsatz von ressourceneffizienten Werkstofflösungen, u.a. den vermehrten Einsatz von Werkstoffen aus dem Recycling oder aber auch Substitutionswerkstoffe. Somit kann der lang gelebte Ansatz „immer den perfekten Werkstoff“ einzusetzen nicht sinnhaft weiterverfolgt werden. Zudem gilt es eine gestellte Aufgabe mit minimalem Werkstoffeinsatz zu lösen. All die Forderungen sorgen dafür, dass wir die eingesetzten Bauteile bis ins kleinste Detail verstehen müssen. Dem Designprinzip „Viel hilft viel“ können und dürfen wir nicht mehr folgen. Dennoch müssen Bauteile und Strukturen weiterhin sicher und zuverlässig ihre Aufgaben im Alltag erfüllen. Hier kommt nun wieder meine Forschung ins Spiel: unter Berücksichtigung der Zusammenhänge zwischen Herstellungsprozess, mikrostruktureller Entwicklung und den finalen Gebrauchseigenschaften bis hin zur Definition der finalen Nutzungsdauer gilt es das Werkstoffverhalten zu bewerten und zu verstehen. Genau hier hinein spielen meine Arbeiten zu Materialermüdung, Mikrostrukturanalyse sowie Randschicht- und Eigenspannungsanalyse. Meine Vision dabei ist es schadenstolerante Werkstoffe zu schaffen. Diese Werkstoffe sollen dabei gleichzeitig zwei Aufgaben erfüllen. Einerseits sollen sie frühzeitig aufzeigen, dass sie in kritischen Belastungssituationen eingesetzt wurden und somit eventuell das entsprechende Bauteil ersetzt werden muss. Andererseits sollen in diesem Fall aktivierte Mechanismen im Werkstoff verhindern, dass es zu einem vorzeitigen und unerwarteten Versagen kommt. In diesem Zuge spielen u.a. Formgedächtniswerkstoffe eine Rolle, die wir aber gleichzeitig auch nutzbar machen wollen, um gänzlich neue Werkstofflösungen im Bauingenieurwesen zu schaffen.
3) Wie schaffen Sie es, Ihre Leidenschaft für die Materialwissenschaft auf Ihre Kollegen und Kolleginnen sowie Teammitglieder zu übertragen und sie für gemeinsame Projekte zu motivieren?
Die Forschung in Materialwissenschaft und Werkstofftechnik macht mir seit jeher unglaublich großen Spaß, hier konnte und kann ich mir meinen Spieltrieb erhalten. Werkstoffe sind unglaublich facettenreich und erlauben es daher, mit immer wieder neuen, teils auch verrückten, Ideen gänzlich neue Dinge zu schaffen. Meine Erfahrungen über die zurückliegenden Jahre haben mir dabei gezeigt: der Funke der Begeisterung springt unglaublich schnell über. Und dies gilt unabhängig von der Generation. Wichtig dabei ist nur, Dinge auch einmal „unwissenschaftlich“ zu präsentieren. In meiner Arbeitsgruppe in Kassel fördere ich die Umsetzung jeglicher Ideen. Ungewöhnliche Wege sollen beschritten werden, der Nachweis, dass eine Idee dann eventuell doch nicht funktioniert ist auch ein wissenschaftlicher Erfolg. Wichtig ist mir dabei jedoch immer ein Punkt: Ich will wissen „WARUM“ ist der Plan aufgegangen oder eben nicht. Zudem ist mir natürlich wichtig Erfolge zu feiern. Sei es ein erfolgreiches Experiment, eine Publikation, ein eingeworbenes Forschungsprojekt oder eine Auszeichnung: entscheidend ist, dass dies in der Gruppe kommuniziert und dann gebührend gefeiert wird. Nur dieser stetige Austausch, der Blick hinweg über den Tellerrand der täglichen Arbeit sowie die Anerkennung entsprechender Leistungen lässt uns im oftmals dann doch bürokratischen, zähen Alltag den Blick weiter nach vorne richten.
4) Welche Bedeutung hat die Organisation von Tagungen wie der MSE in Darmstadt und der „Additive Fertigung“ für Ihre wissenschaftliche Arbeit und Ihre Vernetzung in der Fachgemeinschaft?
Unsere Wissenschaftsdisziplin lebt vom stetigen Austausch, viele Fragestellungen sind so komplex, dass diese nur gemeinsam erfolgreich bearbeitet werden können. Um diesen Austausch, auch jenseits bereits bestehender Kooperationen, gezielt zu fördern sind Tagungen wie die MSE, auf denen Wissenschaftler:innen aus verschiedensten Disziplinen zusammen kommen, sowie themenspezifische Tagungen wie die „Additive Fertigung“ von größter Bedeutung. Daher bringe ich mich hier stets mit großer Leidenschaft in die Planungen entsprechender Schwerpunktthemen sowie Symposien ein. Dabei ist es eine hohe Anerkennung zu sehen, wie sich gemeinsam initiierte Symposien über die Jahre hinweg entwickelt haben. Auch erfolgreiche Sonderbände in angesehenen Fachzeitschriften, welche die Ergebnisse erfolgreicher Veranstaltungen und Symposien zusammenbringen und für alle interessierten Forschenden auf den entsprechenden Feldern dauerhaft sichern, möchte ich in diesem Zusammenhang nennen. Ich werde mich somit auch zukünftig stark in die Organisation entsprechender Formate einbringen und dabei gerade auch den Aspekt der Internationalisierung im Fokus haben. Wie bereits zuvor betont wird es uns nur gelingen die drängenden Herausforderungen unserer Zeit zu lösen, wenn wir gemeinsam an diesen Lösungen arbeiten. Dies wird uns nicht allein auf nationaler Ebene gelingen, in unserer vernetzten Welt kommt der internationalen Zusammenarbeit größte Bedeutung zu. Um diese jenseits bestehender Beziehungen zu stärken gilt es entsprechende Austauschformate, wie die MSE, anzubieten und auszubauen. Aus meiner Sicht profitieren hier Wissenschaftler:innen aller Generationen, gerade auch die in jüngeren Karrierestufen.
5) Sie haben den Nachwuchsausschuss der DGM über zwei volle Amtszeiten geleitet und sind in der Weiterbildung der DGM aktiv. Welche Erfahrungen und Erkenntnisse haben Sie aus diesen Tätigkeiten gewonnen?
Junge Talente sind der Schlüssel für unsere Disziplin. Dabei muss es Ziel und Aufgabe der DGM, in Zusammenarbeit mit allen Universitäten, Industrieunternehmen, Schulen, der Politik, etc., sein sicherzustellen, dass für dieMaterialwissenschaft und Werkstofftechnik eine große Zahl an jungen Persönlichkeiten gefunden, begeistert und gefördert wird. Aktuelle Zahlen zeigen, dass wir hier noch deutlich besser werden müssen, die Studierendenzahlen in den Ingenieurwissenschaften im Allgemeinen sind deutlich ausbaufähig. Hierzu braucht es Ideen und ein Netzwerk, welches diese Ideen vor Ort dann umsetzt und so aktiv Werbung für unsere Wissenschaftsdisziplin macht. Dem Nachwuchsausschuss der DGM kommt an dieser Stelle eine zentrale Bedeutung zu. Die Arbeit im Nachwuchsausschuss war und ist dabei immer extremst bereichernd gewesen. Großartige Ideen wurden durch die Mitglieder im Ausschuss sowie das Bundesteam umgesetzt und haben so für hohe Sichtbarkeit gesorgt. Dennoch ist nicht zu verschweigen: die Last war zumeist nur auf wenigen Schultern verteilt. Daher ist es von höchster Bedeutung, dass nicht nur die aktuell im Nachwuchsausschuss aktiven Persönlichkeiten, sondern wir alle in der DGM, dafür einstehen, dass wir mehr junge Talente für unsere Disziplin gewinnen. Dabei können wir unsere eigene Begeisterung für Werkstoffe einfach nutzen und teilen. Wichtig ist, dass in der Gesellschaft bekannt ist, wie faszinierend die Welt der Werkstoffe ist. Entsprechende Erfahrungen konnte ich an vielen Stellen sammeln, von Besuchen in Schulen über „Tage der offenen Tür“, bis hin zu den Fortbildungen der DGM. Ein an aktuelle Entwicklungen aus der Welt der Werkstoffe ausgerichtetes Programm begeistert die Teilnehmenden, ob grundsätzlich bereits fachlich vorgebildet oder eben auch nicht. Wenn es uns gelingt unsere wissenschaftlichen Inhalte, angepasst auf die entsprechenden Zielgruppen, fundiert und kurzweilig zu präsentieren, werden wir die Begeisterung, die uns alle in der DGM vorantreibt, auch in weiteren Personen wecken.