Von Deep Learning bis Norm: Spannungsfeld moderner Gefügeanalyse
Das diesjährige Treffen des DGM-Arbeitskreises “Quantitative Gefügeanalyse” bot einen facettenreichen Einblick in aktuelle Projekte und Entwicklungen aus Wissenschaft und Industrie. Schon der Auftakt zeigte, wie breit das Feld der quantitativen Gefügeanalyse heute aufgestellt ist: Von datenbasierten KI-Methoden über softwaregestützte Bildauswertungen bis hin zu normierten Messverfahren wurde ein weiter Bogen gespannt.
KI-Methoden: Herausforderung Ground Truth und skalierbare Anwendungen
Herr Bachmann (MECS, Saarbrücken) beleuchtete in seinem Beitrag die Herausforderungen bei der Entwicklung skalierbarer KI-Systeme für die Gefügeanalyse im industriellen Maßstab. Ein zentrales Thema war die Definition der sogenannten „Grundwahrheit“ (Ground Truth), die für das Training von KI-Modellen essenziell ist – jedoch mit erheblichem Aufwand verbunden.
Am MECS wird hierzu ein multimodaler Ansatz verfolgt: Aufnahmen derselben Probenstellen mittels Lichtmikroskopie (LOM), Rasterelektronenmikroskopie (REM) und Elektronenrückstreubeugung (EBSD) werden kombiniert, um ein zuverlässiges Referenzsystem zu schaffen.
Basierend auf diesen Daten wurde eine Web-Applikation entwickelt, die Korngrößen und Gefügebestandteile in Stahlproben automatisiert aus LOM-Bildern erkennt. Die Ergebnisse wurden bereits in mehreren Ringversuchen validiert. Aktuell läuft ein Online-Ringversuch zur Klassifizierung hochkomplexer Phasen in bainitischen Stählen – eine Einladung zur aktiven Mitwirkung im Netzwerk.
Mit einem anderen Fokus präsentierte Herr Kaip (GFaI) das Projekt iFrakto, das zur automatisierten Bruchflächenanalyse mittels KI dient. Das System klassifiziert mikroskopische Bruchtypen anhand kombinierter elektronenmikroskopischer Bilddaten (SE, BSE, Topografie) und soll künftig auch makroskopische Merkmale erfassen. Eine intelligente Benutzerführung ist ebenfalls geplant – ein Beitrag zur praxisnahen Unterstützung der fraktographischen Untersuchung.
Einen technisch innovativen Ansatz zeigte Herr Müller (MECS): Mittels generativer KI werden hochaufgelöste REM-Bilder auf Basis von LOM-Aufnahmen erzeugt. Erste Vergleiche mit realen REM-Daten zeigen eine hohe Übereinstimmung. Perspektivisch soll das Modell auf weitere Gefügestrukturen und EBSD-Daten erweitert werden – mit dem langfristigen Ziel, in bestimmten Anwendungsfällen REM durch LOM-basierten Modalitätstransfer zu ersetzen.
Entkohlung und Dendritenanalyse: Ringversuche geplant
Dr. Korpala (MiViA) stellte ein Verfahren zur KI-gestützten Bestimmung der Entkohlungstiefe vor. Durch die Detektion und Klassifizierung der Gefügebestandteile in Entkohlungsschichten wird ein imaginäres Kohlenstoffprofil rekonstruiert, aus dem sich die Tiefe der Entkohlung ableiten lässt. Dabei kommen mehrere spezialisierte KI-Modelle zum Einsatz. Auch die Analyse von Aufkohlungsvorgängen ist mit diesem Ansatz möglich.
Ein weiteres Thema war die praktische Umsetzung der normierten Entkohlungstiefenbestimmung nach DIN EN ISO 3887. Herr Nützel (Schaeffler Technologies) stellte fest, dass es in der Anwendung häufig zu Unklarheiten kommt – etwa bei der Bestimmung der Oberflächenlage oder des Karbidanteils. Ein geplanter Ringversuch innerhalb des Arbeitskreises soll diese Aspekte systematisch untersuchen.
Zur Analyse von Dendritenarmabständen in Aluminiumguss präsentierte Herr Lison (BMW Group) eine Softwarelösung der GFaI. Die automatisierte Bildauswertung steht noch am Anfang – insbesondere bei schwach kontrastierten Dendritengrenzen und wärmebehandlungsbedingten Strukturveränderungen bestehen Herausforderungen. Ziel ist eine vollständige Erfassung aller Dendriten in einer Aufnahme, nicht nur entlang einzelner Linien. Auch hierzu ist ein Ringversuch vorgesehen, dessen Planung in einem gemeinsamen Online-Termin mit dem Entkohlungstiefe-Versuch koordiniert wird.
Arbeitsweise und Struktur: Hybrid und thematisch offen
Im abschließenden Austausch sprachen sich die Teilnehmenden für die Durchführung hybrider Treffen aus – insbesondere, da für das aktuelle Treffen nicht ausreichend Beiträge für eine Präsenzveranstaltung eingereicht wurden. Für das Frühjahr 2026 ist daher ein hybrides Treffen bei MiViA bzw. am Institut für Metallformung in Freiberg geplant.
Ein Vorschlag, den zunehmenden Fokus auf KI-Methoden auch im Namen des Arbeitskreises sichtbar zu machen, wurde diskutiert. Die Teilnehmenden entschieden sich jedoch dagegen: KI wird als methodisches Werkzeug innerhalb der Gefügeanalyse verstanden – nicht als ausschließendes Charakteristikum. Auch in anderen Fachgremien der DGM spielt KI eine zunehmende Rolle, ohne die Namensgebung zu beeinflussen.
Informationen zu allen Fachausschüssen können Sie über die DGM-Homepage unter https://dgm.de/de/netzwerk abrufen.
Wenn Sie Interesse haben, in einem der Ausschüsse aktiv mitzuwirken, schreiben Sie uns eine kurze Mail an fachgremiendgm.de.