Editorial April 2025 | Zwischen Segeltuch und Rotorblatt

Die Zukunft der Windkraft entscheidet sich nicht nur auf hoher See – sondern in der Werkstoffentwicklung und in der Frage, wie wir Materialien denken, die nicht nur effizient, sondern auch zukunftsfähig sind. In diesem Editorial werfen wir einen persönlichen Blick auf Windkraft, Werkstoffe und Verantwortung.

Mein Freund und ich sind am Osterwochenende vom niederländischen Lemmer aus auf das IJsselmeer Richtung Urk hinausgesegelt. Der Wind stand gut, das Boot lag ruhig im Wasser. Und plötzlich waren sie da: weiße Türme, riesig und elegant, scheinbar schwerelos im Wasser verankert. Wir waren mitten im Windpark Westermeerwind – und näher dran als je zuvor.

Die Rotoren zogen ruhig ihre Kreise, kaum hörbar. Keine industrielle Kulisse, kein Lärm, kein Spektakel; nur Technik in ihrer stillen Kraft. Diese Nähe war anders als alles, was ich bisher über Windkraftanlagen wusste. Zwischen den 48 Turbinen zu segeln, jede davon mit 3 MW Leistung, einem Rotordurchmesser von 108 m und Nabenhöhen von fast 100 Metern, ließ uns beinahe winzig wirken.

Wir kamen ins Gespräch, mein Freund und ich. Über die Diskussionen bei uns in Deutschland – über Sichtachsen, Abstände, Akzeptanz. Und über den Kontrast: Hier, vor den Deichen der Noordoostpolder, scheint es zu funktionieren. Seit 2016 versorgt Westermeerwind über 160.000 Haushalte mit Strom – gebaut in Wassertiefen von gerade einmal 3 bis 7 m, die Turbinen teilweise nur 700 Meter vom Deich entfernt.

Und dann kamen wir, ganz ohne Plan, auf die Materialien zu sprechen.
Ich war eigentlich noch ganz bei diesem Moment: das Segel straff im Wind, das Boot ruhig im Wasser, die riesigen Rotorblätter über uns, die sich fast lautlos drehten. Für mich hätte es da auch enden können – beim Staunen.

Aber mein Freund fing an zu erzählen. Einfach so, wie ihm der Gedanke kam: über Rotorblätter, über Fasern, Harze, über die Frage, was mit all dem passiert, wenn es eines Tages zurückgebaut werden muss. Ich habe zugehört, erst noch halb im Wind, halb im Gespräch. Aber irgendetwas daran hat mich gepackt. Zurück an Land habe ich angefangen zu lesen, weiterzufragen, tiefer einzusteigen.

Denn so beeindruckend diese Windräder auch sind – das, was in ihnen steckt, bleibt oft unsichtbar. Ich bin keine Materialwissenschaftlerin, aber durch meine Arbeit für die DGM weiß ich inzwischen: Es sind genau diese Fragen, die darüber entscheiden, wie nachhaltig unsere Energiewende wirklich ist. Nicht nur, wie wir Strom erzeugen, sondern auch, woraus wir die Zukunft bauen:

Moderne Rotorblätter bestehen fast ausschließlich aus faserverstärkten Kunststoffen. In der Regel sind das Glasfasern, seltener Carbon, eingebettet in duroplastische Matrixsysteme; meist Epoxid- oder Polyesterharze. Das ermöglicht enorme Spannweiten bei gleichzeitig hoher Dauerfestigkeit. Die Blätter müssen nicht nur Wind und Wetter standhalten, sondern auch dynamische Belastungen über Millionen Lastwechselzyklen hinweg ertragen – bei minimalem Gewicht.

Was bislang kaum gelingt: diese Systeme am Lebensende sinnvoll zu verwerten. Anders als Stahl oder Beton lassen sich faserverstärkte Kunststoffe kaum sortenrein trennen. Sie sind komplex aufgebaut: Sandwichstrukturen mit Schäumen, Holzkernen, Metalleinlegern; verklebt, verpresst, nicht reversibel. Viele Rotorblätter enden heute auf Deponien oder werden thermisch verwertet. Nachhaltigkeit sieht anders aus.

Dabei gibt es Lösungen. In einigen Forschungsprojekten (unter anderem bei Fraunhofer, der TU Dresden oder in internationalen Netzwerken) entstehen neue Harzsysteme, die sich unter Hitze oder durch chemische Reaktionen wieder trennen lassen. Reversibel vernetzbare Polymere, Diels-Alder-Systeme, thermoplastische Matrizes, die im Vakuuminfusionsverfahren verarbeitet werden können.

Auch biobasierte Harze und Naturfasern gewinnen an Bedeutung: aus Lignin, Cellulose, Flachs oder Hanf – mit dem Ziel, die CO₂-Bilanz schon im Herstellungsprozess zu verbessern. In Pilotanlagen wird zudem an Pyrolyseverfahren gearbeitet, um Carbon- und Glasfasern zurückzugewinnen – allerdings oft mit Einbußen bei der Faserqualität, vor allem bei GFK.

Die Zukunft der Windkraft entscheidet sich also nicht nur auf hoher See – sondern in der Werkstoffentwicklung und in der Frage, wie wir Materialien denken, die nicht nur effizient, sondern auch zukunftsfähig sind. Werkstoffe, die nicht mit dem Rückbau enden, sondern im Kreislauf weiterleben können – weil wir ihre Zerlegbarkeit gleich mitentwickeln, ihre Reparierbarkeit mitdenken und ihre Herkunft ernst nehmen.

Mir wurde an diesem Tag auf dem Wasser einmal mehr klar, wie eng Technik und Natur miteinander verwoben sind. Dass die Kraft des Windes, die unser Segel spannte, dieselbe ist, die diese riesigen Rotoren antreibt. Dass wir – wortwörtlich – im gleichen Strom segeln.

Und dass Materialwissenschaft dabei nicht nur liefert, was funktioniert, sondern auch das mittragen muss, was bleibt. Nicht nur Festigkeit, Lebensdauer, Effizienz. Sondern Verantwortung.

Als wir ein paar Tage später wieder in Lemmer anlegten, war das Bild zwischen den Türmen wieder präsent. Das leise Surren. Die schiere Dimension. Und das Wissen darum, wie viel Materialwissen, wie viele Entscheidungen und Details in jedem dieser Flügel stecken.

Ich habe nochmal über unsere Gespräche auf dem Boot nachgedacht. Darüber, was wir bauen – und wie bewusst wir dabei mitdenken, was danach kommt. Dieser Moment auf dem Wasser hat meine Perspektive natürlich nicht grundlegend verändert. Aber er hat etwas angestoßen. Und er hat mir gezeigt, wie konkret und gleichzeitig weitreichend die Fragen sind, die die Materialwissenschaft und Werkstofftechnik heute bewegen.

Ich war an diesem Wochenende nicht nur unterwegs mit dem Wind – sondern auch mit einem neuen Blick auf die Verantwortung, die wir als Gesellschaft tragen.
 

Sina Stephan
DGM PR-Managerin

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