von Prof. Dr. Horst Hahn, Prof. Dr. Peter Gumbsch, Prof. Dr. Karsten Albe, Prof. Dr. Roland Würschum
Die Deutsche Gesellschaft für Materialkunde verleiht ihre höchste Auszeichnung, die Heyn-Denkmünze, in diesem Jahr an Herrn Prof. Dr.-Ing. habil. Jörg Weißmüller von der Technischen Universität Hamburg und dem Helmholtz-Zentrum Hereon für seine herausragenden Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Grenzflächen in Materialien.
Jörg Weißmüller studierte Werkstoffwissenschaften an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und an der University of Dundee, Schottland. Er promovierte 1990 bei Herbert Gleiter in Saarbrücken über neuartig hergestellte amorphe Au-Si-Legierungen - Materialien, die erst später unter der Bezeichnung Nanogläser zunehmend Beachtung fanden. Teile seiner Promotionsarbeit führte er am CRMC2-Forschungszentrum in Marseille durch. Jörg Weißmüller war danach wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neue Materialien in Saarbrücken und habilitierte sich 1998 an der Universität des Saarlandes. Zwischenzeitig war er 2 Jahre Gastwissenschaftler bei John Cahn und Robert Shull am National Institute of Standards and Technology in Gaithersburg als Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander-von-Humboldt Stiftung. Sowohl John Cahn wie auch Herbert Gleiter sind übrigens ebenfalls mit der Heyn-Denkmünze ausgezeichnet worden.
Nach der Habilitation wechselte Jörg Weißmüller zunächst als Heisenberg-Stipendiat an das damals neu gegründete Institut für Nanotechnologie des Forschungszentrums Karlsruhe, wo er sich eine eigene Arbeitsgruppe aufbaute. 2010 nahm er den Ruf auf die derzeitige Position als Universitätsprofessor an der TU Hamburg an, die verbunden ist mit einer Abteilungsleitung am Helmholtz Zentrum Hereon in Geesthacht.
Im Fokus der fast 40-jährigen wissenschaftlichen Arbeit von Jörg Weißmüller steht die Wechselwirkung von Thermodynamik, Chemie und Mechanik an Grenzflächen in Materialien. Seine Arbeiten auf diesem Gebiet markieren wesentliche Fortschritte.
Richtungsweisend waren bereits seine Arbeiten aus den frühen neunziger Jahren zur thermodynamischen Stabilisierung nanokristalliner Materialien, in denen er sowohl theoretisch als auch experimentell belegen konnte, dass die Korngrenzenenergie durch Segregation zu Null reduziert werden und nanokristalline Zustände so stabilisiert werden können. Dieses Konzept wurde später vielfach aufgegriffen.
Phänomenologie und Theorie der Wirkung von Kapillarkräften, insbesondere der elastischen Flächenspannung in Materialien, sind ein durchgehendes Thema in der Forschung von Jörg Weißmüller. Die von ihm gemeinsam mit John Cahn hergeleitete verallgemeinerte Kapillargleichung für Festkörper stellt einen grundlegenden Beitrag zur Theorie von Kapillarphänomenen dar. Es handelt sich, wenn man so möchte, um die festkörperphysikalische Erweiterung der 200 Jahre alten Young-Laplace Theorie für Fluide.
Seine Experimente zu Grenzflächen in Nanomaterialien führten Weißmüller auch zur Entwicklung eines erweiterten Modells der Mechanik verformbarer Grenzflächen, das auf den Ansätzen von Gurtin aufbaut. Gemeinsam mit Gurtin erweiterte er das bestehende Konzept um die Möglichkeit von Verschiebungssprüngen an Korngrenzen – ein Modell, das heute zu den Standardwerken der Materialmechanik zählt und bereits ca. 1000 mal zitiert worden ist.
Untersuchungen von Jörg Weißmüller an nanokristallinen Materialien sowie später an nanoporösem Gold haben zum Verständnis der Festigkeit und Plastizität von Nanomaterialien beigetragen. Originelle experimentelle Ansätze zur Verformung in-situ in elektrochemischer Umgebung erlaubten es dabei, selektiv die Rolle der Oberfläche zu identifizieren. Diese Experimente zur Plastizität von Nanomaterialien trugen unter anderem zur Programmfindung und Erfolg der DFG-Forschergruppe 714 „Plastizität von Nanomaterialien“ (2006-2012) unter der Leitung von Jörg Weißmüller bei.
Elektrochemie nahm eine zunehmend tragende Rolle in Jörg Weißmüllers Arbeiten ein: Seine Untersuchungen zu elektrochemisch-mechanisch gekoppelten Phänomenen an Elektrodenoberflächen und in nanoporösen Materialien verknüpfen in herausragender Weise Experiment, abinitio Simulation und Kontinuumstheorie. Damit konnten unter anderem auch neuartige Einblicke in die Optimierung katalytischer Prozesse durch elastische Dehnung der Oberfläche gewonnen werden.
Unter demselben Stichwort Elektrochemie hervorzuheben sind seine Beiträge zur Erforschung von hybriden Nanomaterialien als einem Verbund aus Metall und Wasser auf fast atomar feiner Skala, der oberflächenkontrolliert elektrisch schaltbare Eigenschaften erlaubt. Diese Materialien waren eine wichtige Säule für den Sonderforschungsbereich 986 „Maßgeschneiderte Multiskaligen Materialsysteme“ (2012-2024), zu dessen Erfolg Jörg Weißmüller wesentlich beigetragen hat. Als eine Facette des Exzellenzclusters „BlueMat — Wassergesteuerte Materialien“ bleiben sie Forschungsgegenstand in Hamburg. Bei diesen Arbeiten geht es insbesondere um elektrisch schaltbare Festigkeit bzw. in weiterer Folge um grenzflächenbestimmte Aktorik und Dehnungssensorik. Jörg Weißmüllers erste Arbeit zu diesem Thema, die in Science erschien, wurde in der Zeitschrift mit einem Begleitkommentar unter der Überschrift „Muscles made from metal“ prominent hervorgehoben.
Zusätzlich zur Wechselwirkung von Thermodynamik, Chemie und Mechanik an Grenzflächen in Materialien, hat sich Jörg Weißmüller insbesondere in jüngster Zeit darüberhinaus auch mit besonders grundlegenden Aspekten der Mechanik und Thermodynamik von Materialen beschäftigt, nämlich mit der Elastizität offener Systeme. Diese Arbeiten bauen auf der Theorie der Kontinuumsmechanik und Thermodynamik von Mischkristallen von Larché und Cahn auf. Jörg Weißmüller und Mitarbeiter konnten erstmals die zentralen Materialparameter der Theorie, nämlich die elastischen Parameter offener Systeme, experimentell untersuchen und die Vorhersagen präzise bestätigen. In der Anwendung auf hybride Nanomaterialien konnten sie Materialien mit reversibel schaltbarem elastischem Verhalten demonstrieren. In weiterer Folge entwickelte Jörg Weißmüller einen Ansatz für die konkrete Berechnung von Bedingungen für kohärente Phasenübergänge in interstitiellen Mischkristallen, wie z.B. Metallhydriden oder Lithiumverbindungen als Energiespeichermaterialien.
Jörg Weißmüllers Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass darin jeweils besonderer Wert auf die Gesamtsicht gelegt wird. Diese reicht von Experiment, mit vielfach neuartigen Ansätzen, über Simulation und neue Pfade eröffnende Modellbildung bis hin zu theoretischer Durchdringung mit beeindruckender Tiefe. Aus diesem Grund sind die Arbeiten auch von didaktisch herausragender Qualität.
Seine Forschung auf dem Gebiet der Grenzflächen in Materialien ist geprägt von Originalität und gleichermaßen stringenter materialwissenschaftlicher Erkenntnisfindung. Seine Studien führte er an ausgewählten und präzise definierten Modellsystemen, anfangs nanokristallinen und später nanoporösen Metallen durch. Die damit erzielten neuen Einsichten in die Wirkungsprinzipien von Kopplungsphänomenen zwischen Grenzfläche und Volumen bzw. zwischen Chemie und Mechanik demonstrieren das Potenzial für Nanomaterialien mit qualitativ neuen mechanischen Eigenschaften wie auch Funktionseigenschaften. Der von Jörg Weißmüller verfolgte Ansatz von erkenntnisgetriebener und dezidiert unkonventioneller Forschung, im Vorfeld von potentiellen Anwendungen kann als vorbildhaft zur Erschließung neuer Materialkonzepte für die Zukunft angesehen werden.
Mit der Verleihung ihrer höchsten Auszeichnung, der Heyn Denkmünze, ehrt die Deutsche Gesellschaft für Materialkunde Professor Weißmüller für seine richtungsweisenden und exzellenten Beiträge zum Gebiet der Materialwissenschaft und Werkstofftechnik.
DGM-Tag 2025
22.-23.10.2025 Chemnitz und online
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